Ein Beitrag von Karin Jäckel aus dem Buch „Hilfen für missbrauchte Kinder“ herausgegeben von Katharina Klees und Wolfgang Friedebach 1997 Beltz Verlag Weinheim und Basel. Die Webseite der Autorin: www.karin-jaeckel.de

Auszug:

„So finden Kritiker offene Ohren, wenn sie behaupten, weltweit sei dank einer rasant ansteigenden Zahl unzulänglich ausgebildeter Leute, die sich Psychotherapeuten nennen, eine „Epidemie der wieder erweckten Erinnerungen“ ausgebrochen.

Das menschliche Gedächtnis sei nun einmal kein Tonband oder eine Videokamera. Keineswegs könne es alle Ereignisse von der Geburt an oder gar aus vorgeburtlicher Zeit bis zur Gegenwart speichern und quasi auf Abruf wieder freigeben, wenn das Erinnerungsband an der richtigen Stelle vor oder zurückgestellt werde. Im Gegenteil sei experimentell bewiesen, dass das menschliche Gehirn höchst unzuverlässig funktioniere und durch eingeschleuste Informationen jederzeit fehlgesteuert werden könne. Eine Möglichkeit des Einschleusens sei beispielsweise die Technik des Befragens, die in der Psychotherapie oder bei der Erstellung von Glaubwürdigkeitsgutachten angewandt werde.

In den USA, wo man einst zum Vorreiter der gesamten Aufklärungsarbeit über die sexuelle Ausbeutung von Kindern wurde, werden heute Kritikerstimmen besonders laut.

Vor allem Elisabeth Loftus, Professorin für Psychologie an der University of Washington in Seattle und „Engel“ derer, die in den USA aufgrund von Zeugenaussagen verurteilt wurden, vertritt die Auffassung, dass Erinnerungen nicht fotografisch genau gespeichert, sondern in demselben Maße ungenau und verzerrt festgehalten werden, wenn Angst und ähnlich starke Gefühle im Spiel sind. Selbst einst kindliches Opfer eines sexuellen Missbrauchs, vergleicht Elizabeth Loftus Kollegen, die durch raffinierte Fragetechniken Erinnerungen zu beleben versuchen, mit gefährlichen Scharlatanen.

Als Startschuss zur Selbstverteidigung versteht sich eine „Falsche Erinnerungs-Syndrom-Stiftung“ (False Memory Syndrome Foundation), die es seit 1992 in den USA gibt. Sie wurde von Eltern gegründet, die des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden, weil ihre Kinder in einer therapeutischen Behandlung entsprechende Erinnerungen neu belebt hatten. In nur anderthalb Jahren wuchs die Anzahl der Mitglieder auf 8000 Personen.

Vergleichbare Organisationen sprießen auch in Deutschland aus dem Boden. Vor allem eine Gruppierung namens SEM (Ein Dach über dem Kopf-Sozialhelferstation Mensch in Not e.V.) macht von sich reden. Ursprünglich aus einem Verein hervorgegangen, der sich für Sozialhilfeempfänger engagierte, versteht sich die mit ihrem Hauptsitz in (48695) Stadtlohn ansässige und dort von Peter Stoßhoff begründete Selbsthilfegruppe heute hauptsächlich als Interessenverein für des sexuellen Missbrauchs angeklagte Eltern.

Ute Hasskamp, Rechtsanwältin in Düsseldorf, vertritt oftmals in SEM organisierte Eltern gegen die „Massenhysterie des Missbrauchsvorwurfs“.

In einem Telefoninterview, das sie mir am 7.Oktober 1994 gestattete, sagte sie: „Betroffene Eltern können den zu ihrer Entlastung von dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs benötigten Unschuldsbeweis kaum erbringen. In der Regel werden ihnen ihre Kinder bereits bei dem geringsten Verdacht weggenommen, werden verschleppt, in Heimen untergebracht und kommen oft überhaupt nicht mehr nach Hause zurück. Da durch Diagnosebefragung oder Mehrfachbefragung das kindliche Erinnerungsvermögen als Erkenntnisquelle verschüttet wird, haben angeschuldigte Eltern selten eine Chance. Hier sehe ich meine Aufgabe als Anwältin, den betroffenen Eltern zu helfen. Und insofern habe ich mit SEM zu tun.“

Zur Erleichterung der Arbeit des Vereins für betroffene Eltern wurde beispielsweise ein „Fragebogen zum Thema Kindeswegnahme“ entwickelt, der in über 30 Fragepunkten den spezifischen Einzelfall ermittelt. Zusätzlich zu dem beantworteten Fragebogen soll eine eigene Stellungnahme zu den erhobenen Beschuldigungen sowie eine Stellungnahme zu den Erfahrungen des Betroffenen mit den Ermittlern, Jugendbehörden und anderen beigefügt werden.

Obwohl die SEM allgemein noch wenig bekannt ist, erfreut auch sie sich regen Zulaufs und machte beispielsweise im Zusammenhang mit Recherchen zu diversen Fernsehbeiträgen von sich reden, die 1993 und 1994 etwa in Spiegel-TV bei SAT 1 zum Thema Missbrauch mit dem Missbrauch ausgestrahlt wurden.

Zu fragen bleibt, inwieweit die Angst vor Verleumdung berechtigt ist und das Zustandekommen von Organisationen wie SEM eine längst überfällige Reaktion von fälschlich in die Enge getriebenen Verdächtigen.“