Hallo,
danke, dass Du Dich entscheidest, unseren Brief zu lesen.
Wir denken, dass Du dabei bist, einen neuen Weg einzuschlagen, der Dich sicher unbeschreiblich viel Kraft kostet.
Den Kampf „Raus aus der Gruppe“ haben wir vor fast 10 Jahren selbst bestritten und gewonnen.
Wir haben seitdem keinen Kontakt mehr zu den Kultmitgliedern.
Allerdings sind wir noch ziemlich weit davon entfernt, sagen zu können „okay, wir sind raus, jetzt ist alles gut!“ und wir haben auch nicht vor, Dir die Sonnenseiten dieses Lebens aufzuzählen.
Denn Du bist gerade dabei, aus einem Kellerverlies nach oben zu steigen und dabei ist es wichtig, jede Stufe behutsam zu gehen, um nicht auf halber Strecke wieder ganz nach unten zu fallen.
Wir möchten Dir von unserem Ausstieg erzählen:
So ganz freiwillig sind wir zunächst nicht „ von dort“ weggegangen.
Es gab Menschen, die uns eine wichtige Frage gestellt haben: Wollt Ihr sterben?
Wir haben diese Frage nicht klar beantworten können. Wir haben keine Antwort gefühlt, es gab kein Bewusstsein darüber, was „wir“ eigentlich wollen.
Wir haben in dieser heftigen Zeit Menschen, die uns unterstützen wollten und zu denen wir Sympathie spürten, gefährdet. Es gab fast kein Zögern, sie bei den Tätern zu verraten und auszuliefern. Erschreckt hat uns das nicht, wir waren ja letztlich „im Kopf abgeschaltet“.
Unser Umfeld hat das längere Zeit mit angeschaut. Was soll man auch tun, wenn da eine erwachsene Frau immer wieder in Kontakt geht mit Menschen, die sie foltern? Soll man eingreifen?
Was würdest Du tun, wenn es eine Bekannte betreffen würde, eine Freundin?
Irgendwann griffen Menschen ein und ließen uns wegen Eigen- und Fremdgefährdung in die geschlossene Psychiatrie einweisen.
Das war zunächst schrecklich für uns, diese klare, unverschiebbare Grenze.
Aber erst als wir in dieser geschlossenen Umgebung waren, nicht mehr in Kontakt mit den anderen Kultmitgliedern gehen konnten, waren wir in der Lage, Stimmen in uns wahrzunehmen, die auf diese wichtige Frage eine Antwort hatten:
Nein, wir wollen nicht sterben!
In der geschlossenen Abteilung konnten wir uns das erste Mal ein bisschen vorstellen, was „Entscheidungsfreiheit“ bedeutet.
Verrückt, oder? Aber es war wohl wie bei Süchtigen: erst brauchten wir eine „Entgiftung“, um dann klare, eigene Gedanken fassen zu können.
Und das hat uns panische Angst gemacht!!!
Wir sind bis zu diesem Zeitpunkt damit aufgewachsen, dass andere für uns entscheiden.
Dass wir in eine Gruppe gehören, die uns einerseits foltert, andererseits aber so etwas wie Sicherheit bietet, Gewohnheit, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, höher gestellt als „der Rest“.
Manche von uns wollten nicht sterben, hatten aber mindestens genauso viel Angst vor „der anderen Welt“.
Die Angst vor dem Schritt irgendwo „raus“ war zwar groß, aber noch schwerer auszuhalten war manchmal die Angst vor dem Schritt irgendwo „rein“, in etwas Neues.
Wir haben während unseres Ausstieges die Entscheidung „Dafür“ jeden Tag aufs Neue treffen müssen. Manchmal jede Stunde aufs Neue.
Die Angst vor der „anderen Welt“ war teilweise so groß, dass wir uns wünschten, die Gruppe käme, um uns mit zurückzunehmen.
Lieber gewohnte Folter als freien Fall ins Nichts.
Folgende Fragen haben wir uns immer wieder gestellt:
Wollen wir sterben?
Wollen wir selbst auf der Karriereleiter der Täter höhersteigen?
Wollen wir außenstehende Menschen gefährden?
Wir wären gestorben, wenn wir dort geblieben wären. Vermutlich hätten wir uns umgebracht, im Auftrag der Täter.
Oder wir wären selbst immer wieder Täter geworden, je älter wir werden.
Vielleicht wären wir ins Gefängnis gekommen oder lebenslang in die geschlossene Psychiatrie.
Wir möchten Dir sagen: Es wird eine ganze Zeit lang schwer bleiben, auch so schwer, dass Du meinst, es nicht mehr aushalten zu können. Es wird schreckliche Angst machen.
Und Du wirst oftmals denken, es wäre besser, wieder zurückzugehen. Aber das ist eine Lüge! Das ist eine Täterlüge! Sie haben Dich verarscht. Das zu realisieren, tut schrecklich weh und wir könnten verstehen, wenn Du spätestens jetzt diesen Brief in die Tonne haust.
Falls Du weiterliest: Dass Du angefangen hast, am Kult zu zweifeln, ist ein gutes Zeichen! Sie haben eine Menge mit Deinem Gehirn gemacht, um Dich zu zerbrechen und an sie zu binden. Es ist schwer, das wieder aufzulösen, aber es geht! Und dass Du gute Voraussetzungen dafür mitbringst, zeigst Du, indem Du anfängst, am Kult zu zweifeln.
Es sind schon zu viele Menschen in Kultzusammenhängen gestorben. Und es werden immer wieder welche sterben, so lange die Zahl der Aussteiger geringer ist, als die der Täter.
Bitte trau Dich und geh weiter auf der Kellertreppe nach oben! Du bist wichtig, auch wenn Du es anders fühlen magst.
Wenn Du weitergehst, trägst Du dazu bei, dass mindestens Eine überlebt.
Wir wünschen Dir, dass Du bald spüren kannst, dass Licht gut für Dich ist.
Und wir wünschen Dir die geniale Erfahrung, wie es ist, wenn man zum ersten Mal ganz bewusst selbst entscheiden kann, wie hoch man die Heizung stellt.
Weißt Du, wie toll es ist, wenn man merkt, dass man friert und man kann es selbst ändern? Oder wenn man Nächte durchschläft?
Wir waren fast erschrocken, als wir zum ersten Mal mehr als 4 oder 5 Stunden geschlafen haben!
Weißt Du, welche Nahrungsmittel Du magst?
Weißt Du, dass es tatsächlich gehen kann, sich irgendwo sicher zu fühlen?
Weißt Du, wie sich der Körper anfühlt, wenn der Herzschlag endlich in den Normalbereich absinkt und nicht mehr rast?
Eigentlich hatten wir ja vorgehabt, Dir nicht die Sonnenseiten zu präsentieren… Jetzt ist es doch passiert ;-) …. aber hoffentlich nicht so, dass Du völlig geblendet bist.
Geh weiter vorwärts, hörst Du?
In Verbundenheit,
Paula und Co