„Die Phobie vor dem Trauma überwinden” Ein Gespräch mit Onno van der Hart
Von Michaela Huber
(Wir haben die Genehmigung von Frau Huber erhalten, dass wir diesen Text veröffentlichen dürfen auf unserer Hompage und auch in der Lichtstrahlen – Zeitung und im Forum. Wir danken Frau Huber.)
Nickis
Von mir aus gern – vielleicht mit dem Hinweis auf die Zeitschrift, für die ich es gemacht habe und die eine gekürzte Version davon veröffentlichen wird:
www.traumaundgewalt.de
Schöne Grüße!
Michaela Huber
1. Vorsitzende des ISSD e.V.
Sprecherin (Speaker) der deutschen ISSD-Mitglieder in der deutschsprachigen ISSD
Professor Onno van der Hart ist einer von Europas führenden Traumaforschern mit internationalem Renommee. Er war unter anderem 2002-2003 Präsident der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS) und in früheren Jahren bereits Vizepräsident der International Society for the Study of Dissociation (ISSD). Der psychologische Psychotherapeut und Forscher ist Professor für Psychopathologie Chronischer Traumatisierungen an der Abteilung für Klinische Psychologie der Universität Utrecht in den Niederlanden und arbeitet in eigener Praxis sowie als Psychotherapeut am Sinai Center for Mental Health in Amsterdam. Bis vor kurzem war er Leiter der Forschungsabteilung des Cats-Polm Institute in Zeist – eines Forschungsinstitutes für den Bereich sexuelle Ausbeutung und Vernachlässigung im Kindesalter – sowie leitender Psychotherapeut, spezialisiert auf die Behandlung von komplexen Traumastörungen am Mental Health Center Buitenamstel in Amsterdam.
Der Autor zahlreicher Fachartikel (einige Artikel können unter www.trauma-pages.com und www.onnovdhart.nl nachgelesen werden) und Bücher über Trauma, dissoziative Störungen, Trauer und die Behandlung von Traumafolgestörungen hat zweimal die Auszeichnung Milton Erickson Award for Excellence für wissenschaftliche Veröffentlichungen der American Society of Clinical Hypnosis erhalten wie auch zweimal den Pierre Janet Writing Award für beste Veröffentlichung der International Society for the Study of Dissociation (ISSD). Er war und ist Mitherausgeber verschiedener wissenschaftlicher Zeitschriften, einschließlich des Journal of Traumatic Stress and Dissociation. Außerdem ist er „Fellow” der American Society of Clinical Hypnosis (ASCH).
Onno van der Hart unterstützt zahlreiche KollegInnen als Supervisor und Ausbilder in ihrer Arbeit mit komplexen traumabedingten Störungen.
Seit etlichen Jahren arbeitet er zusammen mit den Kollegen Dr. Ellert Nijenhuis und Kathy Steele an einem theoretischen Ansatz für die Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit und für ein Traumabehandlungsmodell. Die Übersetzung des Buches, das diese Theorie zusammenfasst („The haunted Self”) erscheint 2007 beim Junfermann Verlag in Paderborn.
Michaela Huber, selbst Traumatherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin, die van der Hart seit Jahrzehnten kennt und schätzt, besuchte den bescheidenen Gelehrten und Psychotherapeuten in seinem kleinen, von Akten überquellenden Arbeitszimmer an der Universität Utrecht. Van der Hart versteht sehr gut deutsch; seine Antworten wurden aus dem Englischen übersetzt.
Frage: Onno, du bist 1941 geboren und damit ein Kriegskind…
Van der Hart: Oh ja, das stimmt.
Frage: … und da wissenschaftliche Erkenntnisse, wie du sie entwickelt und weiterentwickelt hast, häufig aus einem bestimmten zeitgeschichtlichen, politischen und auch persönlichen Zusammenhang heraus verstanden werden können – siehst du eine Linie in deinem Leben, die dich dahin gebracht hat, Traumaforscher und Traumatherapeut zu werden?
Van der Hart: Meine Eltern waren im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Sehr aktiv. Sie versuchten, gegen die Verzweiflung anzukämpfen, so wenig tun zu können gegen das, was die Naziverbrecher den Juden und anderen Menschen in den Niederlanden und in ganz Europa antaten. Natürlich hat sich die ständige Anspannung auf mich ausgewirkt, die immer mit Händen zu greifen war. Die Gewalt, die Verfolgung, die Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, die Geschichten, die zu Hause erzählt wurden… Das alles hat sicher meine Suche nach Erklärungen und wirksamer Hilfe untergründig angeregt.
Frage: Du sagst untergründig – es gab also keinen direkten Weg von dieser Erfahrung bis dahin, „dein Thema” zu finden?
Van der Hart: Nein, fast im Gegenteil: Ich war schon ungefähr acht Jahre als klinischer Psychologe tätig, als mir allmählich klar wurde, wie sehr Erfahrungen von häuslicher Gewalt – sexueller und körperlicher und emotionaler Gewalt – bei vielen Ratsuchenden eine Rolle spielten. Ganz genau erinnere ich mich an eine Klientin, das muss etwa 1978 gewesen sein, die mir erzählte, sie sei von ihrem Onkel sexuell missbraucht worden. Meine einzige Reaktion bestand darin, sie erstaunt anzusehen und „Oh!” zu sagen – ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich diese Information verstehen, in welchen Bezugsrahmen ich sie setzen sollte.
Frage: Und diese Patientin hat dich sozusagen auf den Weg gebracht? Konntest du dich mit ihr zusammen in der Hinsicht weiter entwickeln?
Van der Hart: Leider ganz und gar nicht, noch nicht. Im Gegenteil, ich glaube, meine schlichte „Oh”-Reaktion und die Tatsache, dass ich dann einfach zur Tagesordnung übergegangen bin, hat sie verletzt, was mir bis heute leid tut. Erst allmählich habe ich dann erkannt, dass – wie es heute noch manche Kollegen tun – die Ignoranz dieses wichtigen Themas eine Quelle der Retraumatisierung für diese Klientinnen sein kann.
Frage: Heutzutage kann es ja schon als Kunstfehler gelten, das Thema nicht aufzugreifen, wenn es von den Patienten und Patientinnen benannt wird, aber damals dachte man ja noch, sexuelle Gewalt sei etwas „ganz Seltenes”.
Van der Hart: Mein Wissensstand damals war noch schlechter. Ich dachte nicht nur: „Das ist etwas ganz Seltenes”, auch nichts in meiner Lebensgeschichte, meiner Familie oder den Erzählungen anderer Menschen hatte mich darauf vorbereitet. Und leider gab es auch so gut wie nichts darüber in der Fachliteratur. Was ich damals noch nicht wusste: 1975 war das „Handbook of Psychiatry” erschienen, in dem es noch heißt, Inzest käme nur in einer von einer Million Familien vor. Zwar kannte ich das Buch damals nicht, aber das klinische Wissen der Zeit war eben insgesamt nicht besser.
Frage: Wie bist du dann auf die Arbeiten von Pierre Janet gestoßen? Haben dich seine Schriften eher theoretisch interessiert?
Van der Hart: Es gab zwei Bücher, die mich zu ihm führten, und ich weiß nicht mehr, welches ich zuerst gelesen habe. Das eine ist von Ernest Hilgard: „Divided consciousness”, das andere von Henry Ellenberger: „Die Entdeckung des Unbewussten”. Hilgard hat sich ausdrücklich auf Janets Dissoziationstheorie bezogen und beschrieb einige von Janets klinischen Fällen in solcher Klarheit, dass ich sofort dachte: „Dies hier ist etwas äußerst Wesentliches”. Ich mochte Janets aktiven Zugang in der Behandlung seiner PatientInnen sofort, auch seinen tiefen Respekt für sie, und den kreativen Weg, wie er sich jeder einzelnen Patientin näherte und versuchte, ihr gerecht zu werden. Mein klinischer und theoretischer Zugang war bis dahin recht eklektisch, natürlich mochte ich auch zum Beispiel die strategischen und direktiven Vorgehensweisen von Milton Erickson und Paul Watzlawick Wenn die meine klinischen Väter waren, so entdeckte ich in Janet sozusagen meinen klinischen und intellektuellen Großvater. Ellenbergers Buch war dann einfach eine Freude, ein großartiges Buch über die Entstehung der modernen Psychotherapie. Es enthält ein wunderbares Kapitel über Janet, dessen klinische Beobachtungen, therapeutische Neuerungen und theoretische Beiträge bedauernswerterweise lange Zeit ignoriert wurden.
Frage: Hat dir Janets Definition von Dissoziation als „Aufteilung von Systemen und Funktionen, aus denen sich Persönlichkeit zusammensetzt” eine Trauma-Theorie geboten?
Van der Hart: Da war ich noch gar nicht bei dem Thema Trauma. Zwar konnte ich schon sehen, dass Dissoziation und Trauma eng zusammen hingen, aber ich war an Hypnose-Themen und an den verschiedenen Bewusstseinsebenen interessiert, in denen Wissen gespeichert ist. Dass man manchmal etwas bewusst weiß, was in anderen Situationen unbewusst ist. Dass also das Unbewusste tatsächlich etwas „manchmal Bewusstes” ist, also nur eine andere Ebene oder ein anderer Teil, der durchaus – das wusste ich aus der Erfahrung als Hypnotherapeut – bewusst sein oder werden kann. Dann beschäftigte mich der Unterschied zwischen Hilgards Dissoziationstheorie – er sagt ja, Dissoziation sei ein normales Phänomen – und der Dissoziationstheorie von Janet, der Dissoziation als pathologische Aufteilung beschrieben hat. Janet beschrieb, wie Hypnotisierbarkeit verschwindet, sobald die PatientInnen die dramatischen Erinnerungen und andere Teile ihrer Psyche integriert und somit die Dissoziation ihrer Persönlichkeit aufgelöst haben. Wenn diese Erinnerungen integriert sind, können diese Menschen nicht mehr in den Zustand zurück, in dem sie erst etwas erleben und danach dafür amnestisch sind.
Frage: Ursache der pathologischen Dissoziation ist Trauma?
Van der Hart: Trauma und offenbar andere krankmachende Faktoren, vielleicht gibt es dafür auch noch andere Faktoren, das wissen wir noch nicht. Trauma jedenfalls ist ein solcher Faktor, der pathologische Dissoziation auslöst.
Frage: Pathologische Dissoziation – ein solcher Ausdruck gefällt natürlich denjenigen oft nicht, die dissoziieren und das als positiven Überlebensaspekt wahrnehmen oder darstellen.
Van der Hart: Wir wollen damit die Überlebenden nicht klein machen, aber auch der tiefe Respekt für den Überlebensaspekt darf uns nicht daran hindern, wissenschaftlich zu denken, und es spricht alles dafür, dass Dissoziation im wesentlichen ein pathologisches Phänomen ist, das unter extremem Stress auftritt.
Frage: Wie bist du dazu gekommen als Kliniker, dich so genau für dieses Phänomen zu interessieren, das ja deine Forschungsarbeiten sehr vorwärts getrieben hat.
Van der Hart: Aus meinem persönlichen, familiären und politischen Hintergrund heraus wollte ich zur Entlastung von Leid beitragen, und wer sich für das Heilen interessiert, muss ja das Leiden untersuchen. Zurückblickend würde ich sagen: Wenn ich es noch einmal machen könnte, würde die Forschung einen noch größeren Anteil in meinem Leben haben. Drei Tage in der Woche als Therapeut zu arbeiten und die Verpflichtungen als Hochschullehrer ließen mir leider wenig Zeit für die Forschung, obwohl sie mir so wichtig ist. Das Lesen der Arbeiten anderer beantwortet ja nicht alle meine Fragen, und den Fragen nachzugehen, die mir dann bleiben, ist etwas, das mir zutiefst Freude macht.
Frage: Dabei hast Du ja sehr viele Arbeiten verfasst und Forschungsprojekte durchgeführt oder dich an ihnen beteiligt, die ausgesprochen anregend für uns KollegInnen waren – und hast dich dann auch fachpolitisch eingesetzt, etwa als Präsident der ISTSS. Das sind ja viele Arbeitsfelder neben den genannten als Psychotherapeut und Hochschullehrer.
Van der Hart: Ja und ich bin teilweise sehr viele Verpflichtungen eingegangen, etwa Präsident der niederländischen Fachgesellschaft für Hypnose oder die Mitherausgabe von Fachzeitschriften. Selbstkritisch muss ich hinzufügen: Als Ehemann und Familienvater habe ich meine Familie unter meinen zahlreichen Aktivitäten durchaus leiden lassen. Dennoch bin ich aus tiefer Überzeugung sehr engagiert, etwa als ehemaliger Präsident in der International Society for Traumatic Stress Studies (ISTSS). Aus zwei Gründen: Zum einen finde ich es wichtig, dass Gesellschaften, die den Begriff „International” im Titel führen, auch international besetzt und geführt werden und nicht nur als nordamerikanische Gesellschaften. Und zum anderen habe ich beobachtet, dass diese Gesellschaft sich mit dem, was Typ I-Trauma genannt wurde, sehr intensiv beschäftigt hat, also einmalige Vergewaltigungen, Raub, „Shell Schock” bei Soldaten und so weiter. Gleichzeitig aber arbeiten die meisten Mitglieder dieser Gesellschaft hauptsächlich mit anderen, komplexeren Traumatisierungen, die sie offiziell eher stiefmütterlich behandelt haben, also wollte ich auf diese komplexeren Traumaarten und –folgen hinweisen.
Frage: In der Tat ist es ja, wie die neurobiologischen und –physiologischen Forschungen uns bestätigen, auf bedeutsame Weise verschieden, ob ein Mensch als erwachsenes Selbst ein Trauma erlebt oder ob durch frühen extremen Stress die Persönlichkeit gar nicht erst zu einem kohärenten Selbst zusammen wächst. Früher haben wir gedacht: Gewalt sprengt eine Persönlichkeit auf. Heute wissen wir: Frühe Gewalt lässt die Persönlichkeit gar nicht erst zusammen wachsen. War dir dies schon länger klar?
Van der Hart: Nein, nicht am Anfang. Ich glaube, eine wichtige Quelle waren die Arbeiten von Frank Putnam für mich, dann kamen andere Arbeiten hinzu. Das eine ist die mangelnde Kohärenz durch Stress. Mindestens ebenso bedeutsam aber sind die Bindungsaspekte: Wenn ein Elternteil dem Kind vermittelt: „Du bist ein Nichts” oder „Du bist nur gut als Sexobjekt” oder „Alles ist deine Schuld”. Solches Verhalten bringt ein unsicheres oder desorganisiertes Bindungsmuster beim Kind hervor.
Frage: Die Neurowissenschaften, die Bindungstheorie und die Dissoziationstheorie hast Du gemeinsam mit Ellert Nijenhuis, Kathy Steele und anderen in einer Hinsicht weiterentwickelt, nämlich zur strukturellen Dissoziationstheorie. Wie ist es dazu gekommen?
Van der Hart: Seit etwa 1980 habe ich mich sehr intensiv mit komplexen Traumastörungen beschäftigt, besonders auffallend darunter ist natürlich die dissoziative Identitätsstörung, die damals noch multiple Persönlichkeitsstörung genannt wurde. Von den amerikanischen Kollegen und Kolleginnen lernten wir darauf zu achten, dass manche komplex Traumatisierte „alter-Persönlichkeiten” hatten, wir nennen sie heute Teilpersönlichkeiten (parts), weil es ja nur eine Gesamtpersönlichkeit gibt. Multiple Persönlichkeiten, so lernten wir und konnten es auch sehen, hatten verschiedene typische Teilpersönlichkeiten in sich wie traumatisierte Kindanteile, täteridentifizierte Anteile, Beschützeranteile und so weiter. Damals gab es für diesen Befund noch keine kohärente Theorie. Dabei hatte Janet bereits genau beschrieben, wie Dissoziation funktioniert: dass nach hochgradig belastenden Ereignissen einer oder mehrere Teilbereiche der Persönlichkeit dazu da sind, weiter im Alltag zu funktionieren, und um das tun zu können, muss dieser Anteil oder müssen diese Anteile die traumatischen Erinnerungen von sich fern halten; auf der anderen Seite entwickeln sich dann Teilbereiche der Persönlichkeit, die solche schrecklichen Erinnerungen ganz oder in Fragmenten hüten bzw. enthalten, und wenn diese Teile wieder aktiviert werden, ist es, als würde die Vergangenheit wieder zu Gegenwart.
Frage: Kanntest Du damals schon das Buch von Charles Myers von 1940, in dem er beschrieb, wie sich die Persönlichkeit von Soldaten im ersten Weltkrieg durch die Kriegstraumatisierungen in eine „Anscheinend Normale Persönlichkeit” ANP und eine „Emotionale Persönlichkeit” EP aufspaltet? Ihr verwendet ja in Eurer strukturellen Dissoziationstheorie seine Begriffe.
Van der Hart: Erst las ich Janet, und dann bekam ich das Buch dieses britischen Militärpsychologen Charles Myers in die Hände – er war übrigens auch Experimentalpsychologe in Cambridge. Bei seinem Fronteinsatz bestand seine Aufgabe darin, sich um akute emotionale Probleme der Soldaten zu kümmern. Er ist derjenige, der den Begriff „Shell Shock”, also Granatenschock erfunden hat. Später hat er bedauert, dass dieser Begriff sich verselbständigt hatte. Denn die – heute würden wir sagen akuten und posttraumatischen – Belastungssymptome bilden sich auch bei Soldaten aus, die nicht in der Nähe von explodierenden Granaten gewesen sind. Der Begriff ist einfach falsch. Ja, seine Beschreibung der anscheinend normalen und der emotionalen Persönlichkeit als zwei Bereiche, in die sich Persönlichkeit nach Trauma aufteilt, war sehr wichtig für uns. Die beiden wichtigsten Symptom-Cluster der PTBS, also das Wiedererleben des Traumas und die dauerhafte Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma zu tun haben, können ja leicht in Myers strukturelles Modell der Traumatisierung übersetzt werden. Auch war es uns möglich neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften in dieses Strukturmodell zu integrieren.
Frage: Wobei frühe, kontinuierlich traumatisierende Umwelten wie etwa eine Misshandlungsfamilie, in der ein Kind groß wird, noch weitere Aufteilungen erzwingt, so dass ein „Persönlichkeitssystem” entstehen kann – war das für dich, der du ja auch als Familientherapeut gearbeitet hast, eine wichtige Erkenntnis?
Van der Hart: Eine sehr wichtige. Als ich erst einmal mit zwanzig, dreißig Familien gearbeitet hatte, hörte ich auf, eine Familie als eine Ansammlung von Individuen zu betrachten, sondern sah sie als ein System, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Systemisch mit Einheiten eines größeren Ganzen zu arbeiten, war mir also vertraut. Und als ich dann multiple Persönlichkeiten kennen lernte, fiel es mir nicht schwer, systemisch mit ihnen zu arbeiten. Wobei dann natürlich viele Fragen auftauchten wie: Alltagsperson oder ANP und Trauma-Anteile oder EP(s) als Grundeinteilung gut und schön – aber wie ist es genau bei komplex traumatisierten Menschen? Hier fühlte ich mich wie das Kind im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, wenn die geschätzten Kollegen apodiktische Feststellungen in der Art trafen: Multiple Persönlichkeiten gibt es gar nicht – eine Behauptung, die durch keinerlei wissenschaftliches oder gesundes klinisches Wissen gestützt sein konnte.
Frage: Das ist ja interessant. Ist das auch dein Lieblingsmärchen? Diese Haltung: „Der hat ja gar nichts an!” Dieses Anti- oder besser Un-Autoritäre, das in diesem Märchen zum Ausdruck gebracht wird?
Van der Hart: Entwicklung in vielen Bereichen des Lebens und der Wissenschaft hängt ja davon ab, dass man eine solche Einstellung einnimmt, nicht wahr? Dieses: „Ja, von mir aus mögt ihr meine Beobachtung oder meine Frage dumm nennen oder den Kopf darüber schütteln, dass ich nicht automatisch eurer Meinung bin, aber ich denke: So stimmt es nicht.” Diese Pseudo-Naivität des Infragestellens angeblich selbstverständlicher Wahrheiten hilft mir, und ich habe viele, viele Fragen, von denen erst einige beantwortet sind. Manchmal ist es entscheidend, einfach nur bei der Beobachtung zu bleiben und sich noch einmal ganz neu aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu fragen, wie die Dinge zusammenhängen; diese bodenständige basale Vorgehensweise ist mir wichtig, das ist meine Art, an Theoriebildung heranzugehen.
Frage: Und so habt Ihr aufgrund dieser „basalen Vergehensweise” herausgefunden, dass strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit in jeder Form der posttraumatischen Belastungsstörung eine entscheidende Rolle spielt. Müsste sich das nicht auf Diagnose-Handbücher wie ICD oder DSM auswirken, die ja andere Einteilungen vornehmen, etwa die Posttraumatische Belastungsstörung unter den Angststörungen aufführen oder die dissoziative Identitätsstörung mit hysterischen Störungen in Verbindung bringen?
Van der Hart: Oh, bei den hohen Herren des ICD und des DSM mit ihren eigenen Vorstellungen und politischen Auseinandersetzungen habe ich wenig Hoffnung, dass sie sich mit einer solch „einfachen” Sichtweise anfreunden können, wie sie die Einteilung in drei Komplexitätsgrade bei der strukturellen Dissoziation beinhaltet. Für mich aber ist diese Einteilung in zunehmende Komplexitätsgrade struktureller Dissoziation extrem hilfreich, weil sie sich auch auf die notwendigen therapeutischen Bearbeitungsschritte auswirkt. So besteht für mich die einfache Posttraumatische Belastungsstörung in einer ANP und im wesentlichen einer EP. Doch wenn Traumata früher beginnen, länger andauern oder brutaler durchgeführt werden, kann die Persönlichkeit des Opfers sich aufspalten in einen ANP-Bereich, der den Alltag regeln muss, aber mehrere EPs. So kann zum Beispiel ein EP den größten Teil der Angst und der Schmerzen aus der traumatischen Erfahrung enthalten, ein anderer EP die Wut des Täters und wieder ein anderer Teil eine depersonalisierte Beobachter-Haltung, um nur einige Beispiele zu nennen. Und dann gibt es unserer Überzeugung nach noch einen dritten Komplexitätsgrad struktureller Dissoziation, nämlich dann, wenn es aufgrund der langjährigen schweren Traumatisierung von Kind an notwendig war, dass die Heranwachsende mehrere alltagstaugliche Persönlichkeitsanteile getrennt voneinander entwickelte und mehrere EPs. Dann sprechen wir von dissoziativer Identitätsstörung.
Frage: Auf der zweiten Ebene – also ein Alltags-Ich und unterschiedliche „Zustände” oder „Anteile”, in denen die Persönlichkeit trauma-nah denkt, fühlt und sich verhält, befinden wir uns bereits auf der Ebene der komplexen Traumastörungen. Ebene drei ist dann ausschließlich die dissoziative Identitätsstörung.
Van der Hart: Ja, und meiner bescheidenen Meinung nach gibt es weitaus mehr Menschen, deren Persönlichkeit auf der zweiten Ebene der strukturellen Dissoziation organisiert ist, als multiple Persönlichkeiten, also Ebene drei. Auf der zweiten Ebene finden wir viele, auf die die erste Untergruppe der „Nicht näher bezeichneten Dissoziativen Störung” nach dem DSM zutrifft: Sieht klinisch wie eine multiple Persönlichkeit aus, ist aber nicht so weit auseinander entwickelt, dass tatsächlich mehrere ANPs unabhängig voneinander existieren. Das ist eine andere Art zu diagnostizieren, als wenn man Punktwerte zusammenzählt in der Art – jetzt nenne ich fiktive Zahlen: dreißig Prozent Amnesie, vierzig Prozent Depersonalisation und zwanzig Prozent Derealisation zum Beispiel, wer darüber liegt, hat eine Dissoziative Identitätsstörung. Ich halte die strukturelle Dissoziationstheorie hier für bedeutsamer – sie erfordert aber einen guten klinischen Blick aufgrund von ausreichender klinischer Erfahrung.
Frage: Auf der zweiten Ebene der strukturellen Dissoziation befindet sich Eurer Theorie nach auch zum Beispiel die Borderline-Störung.
Van der Hart: Ja, auch wenn es einige Menschen gibt, die sowohl eine dissoziative Identitätsstörung haben, also auf der dritten Ebene dissoziieren, als auch komorbid eine Borderline-Störung haben. Auf der zweiten Ebene können sich auch einige andere Persönlichkeitsstörungen befinden, besonders die vermeidende Persönlichkeit, verschiedene affektive Störungen und so weiter.
Frage: Ihr beklagt ja insbesondere auch, dass das DSM, das ja international für die Forschungsarbeiten so wichtige diagnostische Handbuch, die somatoforme Dissoziation praktisch komplett ausklammert.
Van der Hart: Das ist meiner Meinung nach ein richtig schwerer Fehler des DSM IV: Hier werden die dissoziativen Störungen von den meisten somatoformen Störungen getrennt. Nehmen wir den einfachen Fall der Konversionsstörung. Hier wäre es wesentlich besser gewesen, eine einfache Kategorie der „dissoziativen Störungen der Bewegung und Empfindung” zu schaffen, die zur einfachen posttraumatischen Belastungsstörung, also erste Komplexitätsstufe, zugeordnet werden sollte. Außerdem sollte der klinischen Erfahrung Rechnung getragen werden, dass wir oft erst nach und nach feststellen, wenn eine Persönlichkeit doch auf einer höheren Stufe der Komplexität dissoziiert ist, es also mehrere Anteile gibt oder sogar mehrere Alltags-Ichs. Die akute Belastungsstörung oder posttraumatische Belastungsreaktion wiederum kann auf Ebene „eins” angesiedelt sein, sie kann aber auch so schwerwiegend sein, dass sie auf höheren Ebenen der Komplexität angesiedelt sein muss. Etwa wenn eine Frau mit einer dissoziativen Identitätsstörung erneut akut traumatisiert wird – das ist dann auf der dritten Ebene zu sehen, nicht auf der gleichen Ebene wie eine einfache PTBS.
Frage: Kannst du noch etwas zum notwendigen „guten klinischen Blick” sagen?
Van der Hart: Wenn wir einen Screening-Fragebogen wie die Dissociative Experiences Scale (DES) oder den Fragebogen zu Dissoziativen Symptomen (FDS) bzw. beim Durchführen des Strukturierten Klinischen Interviews für Dissoziative Störungen (SKID-D), ist es heute unerlässlich, nicht nur darauf zu achten, wie die Fragen eindimensional beantwortet werden, sondern dass wir uns auch Beispiele erzählen lassen und beobachten, ob es Brüche in den Erzählungen gibt. Auch müssen wir darauf achten, ob die nonverbale Kommunikation widersprüchlich erscheint. Wenn wir nach anderen Bereichen, Anteilen oder Zuständen fragen, oder danach, ob es für einzelne Bereiche der Persönlichkeit bestimmte andere Namen gibt, können wir bei komplex traumatisierten und hoch dissoziativen Persönlichkeiten oft deutliche Veränderungen im Gesichtsausdruck, in der Körperhaltung, der Stimmlage etc. beobachten. Vor allem sehen wir dann auch, ob es zu massiveren inneren Konflikten zwischen verschiedenen Bereichen der Persönlichkeit kommt, während die Befragten nach außen hin zögerlich antworten. Leider sind die Fragebogen und Interviews nicht nach der strukturellen Dissoziationstheorie aufgebaut, enthalten also auch einige Fragen nach anderen Formen von Bewusstseinsveränderungen wie etwa Absorption, die keine Dissoziation, also keine Aufteilung der Persönlichkeit, sind. Wichtig also sind zwar einerseits die Fragen nach den dissoziativen Phänomenen selbst, andererseits aber auch die konkreten Schilderungen sowie eine sorgfältige klinische Beobachtung.
Frage: Aus der strukturellen Dissoziationstheorie ergibt sich ja, dass es wichtig ist, mit dem Teil und durch den Teil hindurch zu arbeiten, der den Alltag regelt und zu versuchen, in diesen Bereich der Persönlichkeit die abgespaltenen trauma-nahen EPs zu integrieren, wobei man sicher taktisch vorgehen muss, also die Alltagsfunktionen nicht destabilisieren darf, aber auch nicht zu viele „Baustellen eröffnen” darf, indem man etwa viel mit den traumatisierten kindlichen Anteilen arbeitet.
Van der Hart: In der ersten Phase, das hat schon Janet beschrieben und danach etwa Dan Brown und andere, wie Erwin Parson, die mit Vietnam-Veteranen arbeiten, und Judith Herman hat es dann 1992 in ihrem Buch noch einmal konkret aufgeführt: In der ersten Phase der therapeutischen Arbeit, „Stabilisierung und Symptomreduktion” genannt, geht es darum, den Überlebenden dabei behilflich zu sein, besser im Alltag zu funktionieren und eine höhere integrative Fähigkeit zu erlangen, besonders im Hinblick auf die ANPs. Ab der zweiten Ebene der strukturellen Dissoziation und auf jeden Fall auf der dritten Ebene muss natürlich systemisch mit den Anteilen gearbeitet werden. Dabei sollten aber die beiden Ziele – gutes Funktionieren im Alltag und größere Fähigkeit zur Integration von Abgespaltenem – immer im Auge behalten werden. Wer mehr Chaos erntet, ist meiner Meinung nach zu oft mehr am Inhalt der Erzählung der Überlebenden interessiert als an der Struktur der Persönlichkeit; dabei sollte doch letzteres immer im Vordergrund stehen.
Frage: Das heißt, dass Therapeuten ein Verständnis von einem strukturierten Vorgehen in der Traumatherapie haben sollten. Sie sollten verstehen, dass ein traumatisierter Mensch verschiedene Teile in seiner Persönlichkeit hat, die er oder sie erst wieder oder sogar zum allerersten Mal zusammen bringen muss. Wenn sich verschiedene Teile der Persönlichkeit zeigen, validiert man als Therapeutin oder Therapeut deren Existenz, ist also zu jedem Anteil freundlich und wertschätzend, konzentriert sich aber darauf, vor allem mit dem Gesamtsystem zu arbeiten und die Alltagsfunktionen zu stärken. Wie gehst du dann damit um, dass viele Persönlichkeitsanteile geradezu „herauspurzeln” und vom Therapeuten verstanden und gesehen werden wollen?
Van der Hart: Eine große Rolle spielt die Psychoedukation. Die ANP, also der im Alltag agierende Teil der Persönlichkeit sollte akzeptieren lernen und Rückmeldung darüber bekommen, dass sie nur deshalb funktionieren kann, weil andere Bereiche der Persönlichkeit es übernommen haben, den schlimmsten Teil der Erfahrung zu hüten, aber leider immer noch in der Vergangenheit fest hängen. Das ist oft notwendig, weil viele traumatisierte Menschen in ihrem Alltags-Ich geradezu feindselig auf die EPs reagieren, in jedem Fall also phobisch, weil die EPs Symptome hervorbringen. Die ANP bringt also dem Therapeuten gegenüber zum Ausdruck: Das will ich nicht haben, wenn das nur weg wäre, würde ich wunderbar funktionieren und so weiter. In der Therapie geht es dann aber um ein Verständnis dafür, dass die in der Vergangenheit fest hängenden EP- Anteile befreit werden, entlassen werden müssen aus dieser Aufgabe, dieser Funktion des „Weghaltens von Schlimmem”, und dass endlich wieder die natürliche Tendenz zur Integration, zur Heilung, zu Entwicklung weiter gehen kann. Um da hinzukommen, ist es nötig, sich von der Aufteilung und dem Festgehaltensein der EPs im Wiedererleben oder der Reinszenierung des Traumas zu lösen, sozusagen aus dem Trauma-Gefängnis herauszukommen.
Frage: Mir haben deine Gedanken über die Bedeutung des „Zeuge Werdens” gut gefallen: Weil der Mensch nicht Zeuge seiner eigenen Traumatisierung geworden ist, wird es bedeutsam sein, dass die TherapeutIn ZeugIn des Traumas wird und hilft, dass auch die Persönlichkeit selbst das Trauma „versteht”.
Van der Hart: Ich glaube, dass der Kern jeder Traumatisierung in extremer Einsamkeit besteht. Im äußersten Verlassensein. Damit ist sie häufig, bei Gewalttrauma immer, auch eine Traumatisierung der Beziehungen und der Beziehungsfähigkeit. Eine liebevolle Beziehung, die in mancher Hinsicht einfach „sicher” ist, wird unerlässlich sein, um überhaupt von einem Trauma genesen zu können. Wenn wir uns das Leben von Kindern vorstellen, die häufig, manchmal täglich, gequält werden, dann ist das ein Leben voll namenlosem Entsetzen. Wichtig sind wir Therapeuten als Zeugen zunächst, so glaube ich, in emotionaler Hinsicht. Dies ermöglicht der Überlebenden, manche Gefühle erst einmal vorübergehend auch selbst kennen zu lernen und auszuhalten. Auch Sinneserfahrungen und Bilder werden zumindest in einigen Teilen vom „Zeugen Therapeuten” erlebt, anerkannt, realisiert, und kehren zur Überlebenden zurück, so dass sie oder er sich gesehen und anerkannt fühlt. Wenn ultimative Einsamkeit und Verlassenheit ein wesentlicher Bestandteil der Traumatisierung ist, dann ist ein anderer, nicht gesehen zu werden, sich in einem imaginären Gefängnis zu befinden. Die EP-Teile der Persönlichkeit erleben es so: da geht der ANP-Teil durch den Alltag und tut so, als sei nichts geschehen, und weigert sich zu sehen und anzuerkennen, wie schlecht es den Trauma-gebundenen Anteilen der Persönlichkeit geht. Dabei kann das Gesehen- und Anerkanntwerden durch den Therapeuten oder die Therapeutin wesentlich dazu beitragen, dass die Überlebende diese Bereiche in sich auch anerkennen, trösten, versorgen und wertschätzen kann.
Frage: Manchmal haben wir TherapeutInnen ja den Eindruck, dass die erwachsene Position in den komplex traumatisierten KlientInnen sehr schwach ausgeprägt ist, dass es sich eher um ein „Als-ob-Erwachsensein” handelt, weil eine ANP so tut, als sei sie „jemand Erwachsenes”. Von daher scheint es einerseits wichtig zu sein, dass wir gute Vorbilder sind, andererseits dürfen wir nicht zu sehr „Elternfigur” für das Kindliche in ihnen sein.
Van der Hart: Ja genau, oder ein „Babysitter”. Die ANP hat bei Komplextrauma ja „Entwicklungs-Löcher”, und durch die gemeinsame Arbeit mit dem Therapeuten gibt es das wichtige Modell-Lernen, das die Weiterentwicklung fördert.
Frage: Andererseits arbeiten viele Therapeuten ausschließlich mit dem erwachsenen ANP-Anteil und sagen zu diesem Teil: „Sie sind ja jetzt erwachsen, Sie müssen die Verantwortung übernehmen”.
Van der Hart: Wenn jemand das macht, frage ich zurück: Und wie, glauben Sie, soll dann die ANP die Traumatisierungen überwinden, die von den EPs „gehütet” werden? Wenn ich in Kontakt mit der ANP bin, gibt es gleichzeitig Reaktionen der EPs, und wenn ich nicht ständig das Systemische in der Gesamtpersönlichkeit der komplex traumatisierten PatientIn wahrnehme, dann kann ich meine Arbeit nicht richtig tun. Denn ich muss ja den Kontakt zwischen ANP und EPs fördern und moderieren, damit innere Heilung stattfinden kann. Gleichzeitig kann ich natürlich nicht hergehen und die EPs „herausrufen”, denn es geht ja darum, dass die ANP sie wahrnehmen und akzeptieren, sie annehmen kann. Ich denke da z.B. an das Buch „Miss America by Day”, in dem Marilyn van Derbur beschreibt, wie sie tagsüber als Miss America funktionierte, während sie nachts von ihrem Vater sadistisch misshandelt wurde. Die ANP, wie ich sie nennen würde, Miss America, wurde immer wieder von furchtbaren Panikattacken heimgesucht, und es war wichtig, dass sie dieses Kind, das da in ihr die schrecklichen Erfahrungen immer wieder erlebte, verstand, ihm zuhörte und es integrierte. Hätte man nur mit der Erwachsenen gearbeitet, wäre die Integration nicht möglich gewesen.
Frage: Mit der Alltags-Person zu arbeiten, also dem Ich, das funktionieren, sich binden, lernen kann, ist von großer Bedeutung, vor allem auf der Ebene eins und zwei, während bei der dissoziativen Identitätsstörung durch die Spaltung in mehrere ANPs (noch) systemischer gearbeitet werden muss?
Van der Hart: Leider wird nicht selten vergessen, dass auch auf der zweiten Ebene der Dissoziation, also bei Komplextrauma, großer Wert auf die direkte Arbeit mit der ANP gelegt werden sollte, statt schnurstracks auf das Trauma zuzusteuern und die EPs „hervorzuzerren”. Wir müssen die ANP sozusagen „coachen”, bessere Beziehungen zu den Anteilen zu bekommen, die EPs sind, statt direkt mit den EPs zu arbeiten. Das zu betonen, ist mir sehr wichtig. Und in der Zeit wo sich diese inneren Beziehungen entwickeln, sollten die Inhalte traumatischer Erfahrungen nicht erwähnt werden.
Frage: Wie überwindet man diese Phobie vor dem „schrecklichen Innenleben”, wenn man eine ANP ist oder als TherapeutIn mit diesem phobischen Erwachsenenanteil zu tun hat, der sich mit diesem Bereich in sich nicht auseinander setzen will?
Van der Hart: Zunächst, indem wir die ANP nicht nötigen, kontraphobisch zu handeln. Erst einmal geht es ja darum, allgemein zu verstehen, warum sie solche Angst vor den anderen Bereichen oder Anteilen in sich hat. Viele unserer Reaktionen sind ja konditionierte Reflexe auf die Bedingungen, die wir vorfinden. Sich „vernünftig” und alltagstauglich verhalten zu können, ist ja eine Qualität, die dem Überleben unmittelbar hilft, und wenn eine ANP von ihrer Phobie spricht, frage ich: „Was macht Ihnen da Angst?” und höre zu. Wenn sie dann zum ersten Mal Worte für diese phobische Reaktion findet, sind wir schon auf dem Weg, sie zu überwinden. Statt Reaktivität wird sich die Reflexionsfähigkeit entwickeln und von da an eine adaptiveres, von innen gesteuertes Handeln. Nach einer Weile können wir fragen, welche EP welche traumatischen Erfahrungen der ANP mitteilen will oder kann, manchmal ist es auch nur ein bestimmter Aspekt einer traumatischen Erfahrung. Wir können da fragen, welche Anteile dabei sein sollten und welche an ihre sicheren Orte gehen. Mit anderen Worten, wir sind ein gemeinsam handelndes Team, das zusammen überlegt, was wann wie und unter welchen Umständen verstanden werden sollte. Wenn wir stets das adaptive Funktionsniveau der ANP im Blick behalten und ihr nur das zumuten, was sie tragen kann, wird der Abstand zwischen ANP und EPs immer geringer.
Frage: Es gibt ja im therapeutischen Prozess eine Fülle von Phobien unterschiedlicher Art zu überwinden, die innerhalb der komplex traumatisierten Person existieren.
Van der Hart: Ja, und alle müssen nach und nach überwunden werden: Die Phobie vor dem „Innenleben”, die Phobie vor dem Trauma, vor den EPs, der EPs untereinander und vor der ANP, die Phobie vor dem körperlichen Fühlen, vor der Beziehung zur TherapeutIn, vor der Erkenntnis, vor den Konsequenzen. Später in der Therapie dann die Phobie vor dem normalen Leben, vor Veränderungen, gesunder Risikobereitschaft und Intimität …. Wir haben also gut zu tun.
Frage: Was geschieht dann in der Traumasynthese, ein Begriff, der ja von Euch strukturellen Dissoziationstheoretikern stammt? Es geht ja um mehr als nur eine „kontrollierte Abreaktion”, wie Richard Kluft es einmal genannt hat.
Van der Hart: Ja, ich glaube, es geht darum, eine Handlung, die unterbrochen wurde, zu vollenden: Die des mentalen und körperlichen Verstehens und Beendens der traumatischen Situation, die sich sonst in den EPs stets aufs Neue wiederholt. ANP und EPs müssen das gemeinsam mit Hilfe des Therapeuten in einer sicheren Umgebung tun. Das Ziel ist Integration, nicht der Ausdruck von so viel Affekt wie möglich. Letzteres könnte nämlich sonst zu einer Retraumatisierung führen.
Frage: Und wie?
Van der Hart: Einfach ausgedrückt muss die ANP, während sie die traumatische Situation in den entscheidenden Elementen noch einmal wahrnimmt, in der Gegenwart verankert bleiben, ein Gefühl der Sicherheit in dieser Gegenwart empfinden, im Kontakt mit der TherapeutIn sein und es der oder den EPs ermöglichen, ihre Erfahrungen und Handlungen aus der traumatischen Situation mit der ANP und untereinander zu teilen; gleichzeitig können die EPs dank des Gefühls der ANP, in der Gegenwart sicher zu sein, zum ersten Mal realisieren, dass das Trauma wirklich aufgehört hat.
Frage: Wie lernt der oder die Betroffene, dass „es vorbei ist”?
Van der Hart: Jedenfalls nicht, indem wir es einfach nur sagen. Dass hat die Person sich sicher schon häufig gesagt. Sondern die ANP, der Therapeut als Zeuge und der oder die EPs führen die bislang unbeendeten traumatischen Aktionen aus, auf einer mentalen Ebene. In dieser Wahrnehmung des Traumas bis zu seinem Ende können intensive Gefühle eine Rolle spielen, oder Bewegungen, es kann sein, dass die Person einen lauten Schrei ausstößt etc. Das ist aber nicht der Zweck der Synthese, sondern eher eine Begleiterscheinung. Würde man der PatientIn zu diesem Zeitpunkt den Blutdruck messen, so würde man beispielsweise merken, wie viel sich in ihrem autonomen Nervensystem abspielt.
Frage: Traumabearbeitung einfach nur aus der Beobachterposition heraus, wie es manche KollegInnen vorgeschlagen haben, genügt also nicht?
Van der Hart: Es muss immer ein gewisses Maß an Affekt, an Stressgefühlen, Schmerzen etc. – die Einzelheiten hängen von der ursprünglichen traumatischen Erfahrung ab – dabei sein, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig darf aber das „Window of tolerance”, die integrative Kapazität des Individuums und seines autonomen Nervensystems und Gehirns, nicht überfordert werden. Also ist es hilfreich, wenn ich das Trauma in Abschnitten oder Sequenzen bearbeite. Schließlich geht es nicht um Abreaktion, also nicht darum, sozusagen den „Dampf rauszulassen”, sondern um eine integrative mentale Aktion, die sehr viel vom Patienten abverlangt.
Frage: Wenn sich das Trauma – etwa als Kind vergewaltigt worden zu sein – immer und immer wieder wiederholt hat, muss man dann alle diese Episoden bearbeiten?
Van der Hart: Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, den schlimmsten Schmerz, die schlimmste Angst zu sterben, oder vor Ersticken etc. – wobei natürlich die PatientIn selbst diese schlimmsten Momente benennt, nicht ich – herauszufinden, die Erfahrungen also, die ich die „pathogenen Kerne” nenne. Wenn man die auslässt, gelingt die Integration sonst nicht oder nur unzureichend. Also bereite ich meine KlientIn darauf vor, die pathogenen Kerne ihrer traumatischen Erfahrungen, das bedeutet eine komplex traumatische Erfahrung oder eine Reihe von mehr oder weniger ähnlichen traumatischen Erlebnissen, zu bemerken. Häufig gibt es auch eine innere Helfer- oder Beobachter-Instanz, die dabei behilflich sein kann. In der Traumasynthese fokussieren wir diese gemeinsam als pathogene Kerne erkannten Bestandteile der vielen Traumasituationen.
Frage: Kannst du ein Beispiel nennen, wie du das machst?
Van der Hart: Wenn wir vorbereitet sind – d. h. was muss an sichere Orte, welche Bestandteile der Persönlichkeit werden die Erfahrung mit der ANP teilen etc. – konzentrieren wir uns z.B. auf den schlimmsten Schmerz. Dann frage ich: Sind alle Anteile anwesend, die diese Erfahrung teilen sollen, die Erfahrung des Schmerzes? Nehmt Euch Zeit Euer Arrangement zu treffen, wie dieses Teilen stattfinden soll. Wenn alles bereit ist, könnte ich z.B. zählen: „Eins: Teilt diesen Schmerz miteinander, zwei: bringt die Erfahrung zusammen, macht daraus ein Ganzes, drei: bringt die Erfahrung zusammen, teilt sie miteinander, vier: bringt es zusammen, macht daraus ein Ganzes, fünf: das kleine Stück, das ihr jetzt miteinander teilen könnt – und stopp, lasst es los, kontrolliert Eure Atmung.„ Ich könnte also mit dieser Frequenz und Intensität beginnen, dann überprüfen wir: War ich zu schnell, sollte ich langsamer sprechen…um das Maß zu modulieren, das die KlientIn jetzt in sich aufnehmen kann. Und dann frage ich danach, wie viel Prozent des Schmerzes jetzt miteinander geteilt worden ist.
Frage: Ist es nicht erstaunlich, dass die Betroffenen nach einer solchen Arbeit immer sagen können, wie viel Prozent es war?
Van der Hart: Ja, immer bekomme ich eine Antwort.
Frage: Das heißt ja, dass die Menschen ein Gefühl dafür haben, wenn sie einmal in das Gefühl sozusagen „hineingeschmeckt” haben, wie viel hundert Prozent war. Woran merkst du, dass die Traumasynthese genug war, dass sie gelungen ist?
Van der Hart: Schon Janet hat beschrieben, dass nach einer Serie von mentalen Aktionen ein Gefühl der Beendigung eintritt, das ist bei Traumapatienten kein fröhliches Ereignis, sondern eher ein Gefühl der Entlastung, des Loslassens, manchmal verbunden mit Trauer. Wenn das der Fall ist, biete ich an, die Bereiche in sich zu trösten, die das erlebt haben. Integration findet auf der sensumotorischen Ebene statt, und es geschieht zweierlei. Einmal das, was Janet „Personifikation” genannt hat: Die Person wird „Eigentümerin” dieser Erfahrung. Und zum anderen„Präsentifikation”, das bedeutet: Das Trauma wird in einen zeitlichen Kontext platziert, der sich vom heutigen Zustand unterscheidet. Beide Vorgänge erfordern noch deutlich mehr als nur ein paar Traumabearbeitungssitzungen. Es bedeutet, die Erfahrung, wie Janet sagte, „in die eigene Autobiografie hineinzuschreiben”.
Frage: Das dauert.
Van der Hart: Ja, unbedingt, das dauert und sollte nicht forciert werden. Häufig braucht man Zeit zwischen den Traumasynthesen, um festzustellen, wie weit die Traumageschichte jetzt realisiert ist – oder integriert, wie wir heute sagen. Und stets muss das Leben heute besonders beachtet werden, schließlich wollen wir ja, dass die Menschen in der Gegenwart gut verankert sind.
Frage: Wir leben, was die Forschung zu Traumatisierungen angeht, in einem aufregenden Zeitalter.
Van der Hart: Und wie. Manchmal bedauere ich es, dass ich schon so alt bin, aber ich würde zu gern die weiteren Ergebnisse der Neurowissenschaften verfolgen und in meine Forschung einbeziehen, etwa zu der Frage, die gegenwärtig diskutiert wird: Auf welchen Ebenen der Hirnfunktionen bleibt die Traumaerfahrung sozusagen stecken? Heute bin ich aufmerksamer dafür, welche Ebenen der Hirnfunktionen beeinträchtigt oder dysfunktional außer Kraft gesetzt sind durch Trauma, auf welchen Ebenen sich Intrusionen abspielen, wo überall das Trauma auf welche Weise wiedererlebt wird und welche schonenden Interventionen helfen. Traumaforschung und die qualifizierten Traumatherapien können einer Gesellschaft viel Geld sparen – natürlich geht es in erster Linie um anderes, etwa Lebensqualität, aber in unserer Gesellschaft spielt das Geld ja eine große Rolle, also sollten wir das auch immer wieder herausstellen. Insgesamt finde ich es sehr wichtig, dass alle in diesem Feld Arbeitenden sich besser koordinieren, damit es nicht nur ein paar wenige Spezialisten sind, die Tag und Nacht arbeiten. Das Wissen um Trauma und die Verarbeitung von Trauma sollten Allgemeingut werden, gehören in die Ausbildung aller Gesundheits- und Sozialarbeiter, Psychiater und klinischen Psychologen. Wir tragen mit unseren Fortbildungen, Büchern und Veröffentlichungen dazu bei, nicht wahr?
Frage: Im Namen der deutschen Kollegen möchte ich mich ganz herzlich bei dir bedanken. Wir verdanken dir in Deutschland sehr viel; deine Erkenntnisse und deine stetige Unterstützung hat uns erst in die Lage versetzt, die KollegInnen hier im Bereich Komplextrauma so sorgfältig zu unterrichten und zu unterstützen. Und wir freuen uns darauf, weiter von dir zu lernen. Herzlichen Dank.