Nickis persönliche Erfahrungen mit Strafverfahren und OEG

Damals hatten wir nicht die Chance, selbst zu entscheiden, ob wir selbst eine Anzeige machen wollen oder nicht, denn das Jugendamt hat selbsttätig Anzeige erstattet. Unser Stiefvater wurde im Jahre 1975 zu ein Jahr und 6 Monate verurteilt. wegen sexuellem Missbrauch eines Kindes u.a.  Obwohl damals niemand zu uns hielt auch unsere Mutter hielt nicht zu uns, sie verweigerte sogar die Aussage. Wenn wir heute über das berichten sagen uns viele ein Glück das ihr eine Verurteilung habt. Aber ein Glück war das nicht! Denn es war für uns kein Glück. Unsere Mutter, Geschwister und auch die andere Täter/innen  haben uns noch mehr gequält und gefoltert. Damit wir ja nichts weiter erzählen von den Treffen im Wald oder in den bestimmten Häusern und Ruinen, Burgen.

Im Jahre 2001, als wir unseren Film drehten, überlegten wir lang intern, ob wir erneut eine Anzeige erstatten sollen oder nicht. Denn wir hatten noch gut in Erinnerung, wie alleine wir damals mit allem waren. Und unsere Angst vor den Täter/Innen war natürlich auch noch da: Würden sie ihre Drohungen wahr machen und uns töten?

Aber dann, sagten wir uns, dass wir dann auch nicht diesen Film hätten drehen dürfen. Ausschlaggebend für die Anzeige, die wir dann erneut gestartet haben, war die Aussage von unserer damaligen Anwältin: ,, Es geht nicht darum, Rache zu nehmen, sondern darum, dass Ihnen Unrecht getan wurde, das klassische ,,Stand up for your right“. Denn das kann Ihnen helfen einfach zu sagen, dass Ihnen damals Unrecht getan wurde.“ Dieser Satz ist noch heute in unserem Kopf.

Und was auch wichtig war ist, wir sind nicht mehr alleine, wir hatten unsere Therapeutin, unseren Mann / Partner, Freunde/innen die uns glaubten.

Aber, und das sagen wir immer wieder, es ist sehr wichtig bei so einem Schritt, dass alle Innenpersonen dazu bereit sind diesen Schritt zugehen. Wenn nur eine Person gegen eine Anzeige ist, sollte man diesen Weg nicht oder noch nicht einschlagen, weil es dann nicht funktionieren kann. Denn dadurch können Falschaussagen zustande kommen.

Damals wurden wir über mehrere Stunden vernommen. Zwar von einer Frau, aber wir hatten nicht einmal das Gefühl, dass diese Frau uns glauben würde. Den Umgang mit uns haben wir dabei als unmenschlich empfunden. Die Kripobeamte/ Innen sollten entsprechend geschult werden und es muss dafür gesorgt werden, dass genügend Pausen eingelegt werden. Die zu vernehmenden Personen müssen die Möglichkeit haben, sich von der anstrengend, aufwühlenden Befragung zu erholen.

Unser Verfahren wurde im Jahre 2011 eingestellt, da man keine Täter/ Innen mehr ermitteln konnte. Gut, die Akten waren 10 Jahre offen und lange Verfahren stehen ja oft in der Kritik. Aber für uns war es eine Bestätigung, dass die Vorwürfe nicht einfach so vom Tisch gewischt wurden und man uns auch geglaubt hatte. Sonst hätte man doch das Verfahren wesentlich früher eingestellt.  Dieses lange Verfahren gab uns Mut weiter zu machen mit unserer Öffentlichkeitsarbeit und an den Staat zu glauben, dass sie Opfer von rituellem Missbrauch glauben. Das Problem sehen wir darin, dass die Täter/Innen überall zu finden sind. Und sie ihre Spuren gut verwischen.

Was das OEG angeht, finden wir es unverständlich, dass die Versorgungsämter heute immer noch oft darauf bestehen, dass man die Täter/Innen angezeigt haben muss und dass die Verfahren über Jahre dauern. Die Gutachten dauern über mehrere Stunden oder sogar Tage. Wir wissen es aus eigener Erfahrung, da unser Verfahren aktuell noch einmal neu aufgerollt wird: In unserem Fall wurden vom Versorgungsamt in den 1990er Jahren nur die Straftaten von 1972 bis 1976 anerkannt. Und im Juni 2012 wurde das das Verfahren neu beantragt wegen der Straftaten, die später stattgefunden haben, nämlich ab 1982. Das bedeutet für uns natürlich neue Gutachten und damit zusammenhängend: alles kommt noch einmal hoch!

Was Richter und Versorgungsämter damit mit uns machen, ist unmenschlich. Warum stellen so wenige Opfer solche Anträge? Ganz einfach, weil sie wissen, dass sie es nicht aushalten können, diese ganze Quälerei, die Erstellung der Gutachten. Und das sie auch noch die Adressen von den Tätern herausgeben müssen. Warum ist das so? Wir wissen darauf keine Antwort. Sind wir nicht genug gequält worden??!!

Was die Gerichte und alle damit zusammenhängenden Institutionen angeht: es muss noch einiges getan werden!

Warum können wir uns nicht an einen Tisch setzen und zusammen überlegen, welche fürsorgliche und menschliche Art es für uns alle geben kann, um uns zu helfen, ohne dass wir ständig neu traumatisiert werden?

Dass wir Hilfe von außen brauchen ist gar keine Frage. Die Frage ist eher, ob es Sinn macht, Betroffenen die Entscheidung zur Anzeige oder zum OEG – Antrag aufzudrängen oder sogar abzunehmen.