Jemand schickte uns einen anonymen Tagungsbericht zu unserer Tagung 2018:

Hallo, ich bin eine von Vielen und war auf der Lichtstrahlen-Tagung am 6. und 7. April 2018 in Oldenburg. Es war unsere allererste Tagung zu der Thematik.
Ich will euch gerne erzählen, was wir da erlebt und gelernt haben.

Also erstmal war es richtig gut für uns, dass wir mit einer Freundin zusammen dort waren, die selbst nicht Viele ist. Wir haben beide Workshops gemeinsam besucht und haben aufeinander aufgepasst. Für uns war es wichtig zu wissen, dass sie mit uns den Raum verlässt, wenn wir gehen wollen und dass sie da ist, wenn etwas triggert oder sich komisch für jemanden anfühlt. Das hat gut geklappt. Und vorhin haben wir telefoniert und zusammengetragen, was wir aus den Workshops mitgenommen haben und das fließt auch alles in diesen Text mit ein.

Bevor ich ins Detail zu den einzelnen Tagungspunkten gehe, möchte ich versuchen in Worte zu fassen, was für mich bei dieser Tagung so einzigartig war.

Ich glaube, ich habe zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl gehabt – vielleicht war es nur ein kleiner Hauch davon, aber da war definitiv etwas da, was ich vorher noch nie gespürt hatte. Für mich war es ein Raum voller Solidarität, alle waren da um sich selbst und einander zu helfen und darin steckte so eine unglaubliche Energie! Es war schwierig und traurig, erleichternd und mutmachend zugleich, so viele andere Betroffene zu sehen. Es haben sich echt viele sehr geöffnet und sich damit gleichzeitig sehr verletzlich und sehr stark gezeigt. Auch wir haben uns geöffnet. Auch das war etwas ganz neues für uns. Im Privaten haben wir uns schon öfter als Viele gezeigt, über Täterstrukturen, Sich-wehren und Ausstieg gesprochen. In der Therapie zum Beispiel oder mit einer guten Freundin. Aber das in dieser Öffentlichkeit zu tun, in der es erwünscht ist, ja in der es sogar darum geht, über solche Themen zu reden, das war wirklich ziemlich einmalig und hat uns sehr bewegt.

Leider fehlen mir die Worte, um das so zu beschreiben, wie wir es empfunden haben. Es hat wirklich viel aufgewühlt. Auch im negativen, aber vor allem im positiven Sinne. Dass wir wirklich da sein durften, das haut mich immer noch völlig von den Socken. Dass wir Teil von so etwas großem sein durften, dafür sind wir sehr dankbar. Und zwischendurch kamen ermutigende Gedanken auf.

Zwischendurch konnte ich glauben, dass wir wirklich zusammen etwas verändern können und dass es eben ein gemeinsamer Kampf ist, nicht einer, den ich ausschließlich alleine kämpfen muss. Dieses Gefühl möchte ich mir bewahren und so weit es geht nach Innen tragen, denn ich merke, dass es so viel verändert, es bringt Mut und Hoffnung. Mut und Hoffnung hat vor allem die Begegnung mit denen gemacht, die schon erreicht haben, was wir uns für unser Leben noch wünschen. Es ist etwas anderes, von Begleiterinnen, die selbst nicht Viele sind, zu hören, dass Veränderung möglich ist, als es so real zu erleben, wie wir es teilweise auf der Tagung erlebt haben. Da waren andere, die von Inneren Dynamiken gesprochen haben, von denen ich vorher noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Jetzt steht bei uns so viel Neues im Raum. Es macht schon auch Angst. So weit nach vorne zu schauen, das macht hier noch Angst. Trotzdem, es war eine wichtige Erfahrung.

So und jetzt versuche ich mal von vorne bis hinten von meinen Erlebnissen auf der Tagung zu berichten:

Bei unserer Ankunft waren schon richtig viele Menschen da, es gab eine lange Schlange für die Anmeldung. Bei der Anmeldung bekamen alle ein richtig schön gestaltetes Buch mit Bildern und Texten von Betroffenen. Mensch, das war so ein schönes Willkommen! Überhaupt haben die, die das organisiert haben, an so viele Details gedacht. Es gab zum Beispiel einen Tisch, auf dem wir uns unsere eigenen Namensschildchen malen konnten, mit bunten Stiften und Findet-Nemo-Aufklebern. Bei der Anmeldung war es möglich, einen Schutz-Namen anzugeben.. Und wir fanden auch toll, dass es in dem Hauptraum eine Ausstellung mit bunten Bildern gab. Es wurde sich echt Mühe gegeben, dass man sich da wohl fühlt. Auf uns hat das sehr beruhigend gewirkt – es trug den Gedanken mit sich „hier darfst du sein“.

Nach der Anmeldung gab es eine Begrüßung von Hjördis und Nickis. Es war erleichternd zu hören, dass Fotografieren auf der Tagung verboten ist und wir haben uns total darüber gefreut, dass veganes Essen angekündigt wurde! Wir fanden auch schön, dass die BegleiterInnen bei der Begrüßung so gewertschätzt wurden. Denn für uns wäre es ohne Begleitung auch nicht möglich gewesen, an der Tagung teilzunehmen und wir bekommen auch in unserem Alltag Unterstützung, auf die wir angewiesen sind und für die wir dankbar sind.

Schildkröte vom Kongress

Foto: Pünktchen

Dann haben die Pünktchen einen wunderschönen Text zu einer selbstgebastelten Schildkröte vorgelesen, die vorne auf dem Podium auf bunten Tüchern schwamm, Der Text war sehr schön, leider
kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was darin vorkam. Es war eine schöne Idee, auf Papierhände, die um die Schildkröte herum lagen, zu schreiben, was uns hält und stützt. Das habe ich nur leider den Rest der Tagung vergessen. Hoffentlich haben viele andere daran gedacht. Direkt nach der Begrüßung ging es auch schon los zum ersten Workshop.

Es war der Workshop von den Nickis zum Thema Schmerzbewältigung.

Am Anfang haben die Nickis ein Papier ausgeteilt, auf dem sie ihren persönlichen Weg der Schmerzbehandlung erzählen. Den schreibe ich hier nicht extra ab, vielleicht wird er ja auf der Webseite veröffentlicht (kann hier nachgelesen werden). Ich fand den Text echt toll, da haben wir viele Anregungen bekommen, die wir jetzt versuchen wollen nach und nach umzusetzen.

Es war ein Mitmachworkshop, das heißt alle haben zusammengetragen, was ihnen bei dem Thema wichtig ist, wo es Probleme und Fragen gibt und wer dafür schon Lösungen und Antworten gefunden hat. Es haben sich echt viele beteiligt und das war schön, so habe ich mich auch getraut was zu sagen und es kam vieles aus unterschiedlichen Sichtweisen und Erfahrungen zusammen.

Vielen vielen Dank, Nickis, dass ihr diesen Raum für dieses wichtige und schwierige Thema eröffnet und auch so viel von eurem persönlichen Weg geteilt habt. So haben wir jetzt viele neue Ideen, was wir noch tun können, fühlen uns nicht mehr so allein damit und können mehr und mehr akzeptieren und auch nach außen zugeben, dass wir echt Schmerzen haben und damit Hilfe brauchen. Vor ein paar Tagen sind wir zu unserer Hausärztin gegangen und haben uns getraut, ihr ein bisschen davon zu erzählen. Und sie hat uns geglaubt! Jetzt sind wir erleichtert und auch so dankbar, denn der Workshop bei der Tagung hat uns den Anstoß und auch den Mut dafür gegeben.

Ich erinnere mich, dass Leute über Menstruationsschmerzen, Übelkeit, Verspannungen und Muskelschmerzen gesprochen haben. Leider kam niemand mit einer schnellen Patentlösung an. Ich glaube, das hatte ich mir unbewusst von dem Workshop erhofft – aber das konnte natürlich nicht erfüllt werden, weil es sowas wie eine einfache Lösung für das alles leider nicht gibt.

Aber es gibt Möglichkeiten und Wege. Wichtig ist, das habe ich aus dem Workshop mitgenommen, erst einmal ärztlich abzuklären, ob der Schmerz eine körperliche oder seelische Ursache hat. Erst wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen werden, geht es an die Innenarbeit:

Ist vielleicht eine Innenperson allergisch? Weiß jemand anders im Innen, woher die Schmerzen kommen? Erfüllen sie vielleicht einen Zweck? Dafür braucht es eine gute Innenkommunikation. Die Nickis haben erzählt, dass sie oft Kommunikationsbücher herumliegen ließen, in denen sie Fragen nach Innen gestellt haben: „Woher kommt der Schmerz?“ und „Wem geht es schlecht?“ und „Wie kann ich dir helfen?“. Und sie hatten noch die Idee, eine Liste zusammenzustellen, welche Innenperson welche Erkrankungen oder Allergien hat. Geduld und Zugewandtheit sind da wohl gefragt, zumindest bei uns ist das so! Deshalb war es so gut zu hören, dass dieser Weg für andere schon geklappt hat und es wichtig ist, nicht aufzugeben. Sind es Erinnerungsschmerzen, dann kann auch Traumabearbeitung ein Weg sein. In dem Zusammenhang wurde EMDR erwähnt, als eine Form der Traumaverarbeitung. Dazu wurde auch gesagt, dass es wichtig ist, das gut vorzubereiten (wie und wo und mit wem wollen wir das machen?), dass alle Innenpersonen, die an dem bestimmten Trauma beteiligt waren, dabei ihre Erinnerungen zusammensetzen müssen und dass es für die Funktionsfähigkeit und Stabilität danach wichtig sein kann, die Alltagspersonen aus dem Prozess raus zu halten. Ich habe es so verstanden, dass durch diese  Aufarbeitung auch Erinnerungsschmerzen verschwinden können und das fand ich sehr ermutigend.

Aber es wurden auch negative Erfahrungen geteilt: bei der Erinnerungsarbeit von anderen kam es zu einer Verkettung der Flashbacks, dabei folgte einer dem anderen und irgendwann hatte das einen kompletten Systemcrash zur Folge. Deshalb haben wir bei diesem Workshop auch darüber gesprochen, wie wichtig es ist, in der Therapie auf das Bauchgefühl zu achten, Grenzen zu setzen und darin von der Therapeutin auch ernst genommen zu werden. Nichts sollte bei der Traumaverarbeitung überstürzt werden, denn kommt es erstmal zu einem Systemcrash, dann ist ein neuer Aufbau und ein neues Sortieren sehr schwierig und außerdem geht das Ganze auch wieder mit körperlichen Schmerzen einher.

Sowohl bei körperlichen als auch bei psychischen Gründen für die Schmerzen, können verschiedene Therapien helfen. Und auch schon zu Hause können wir manche Beschwerden schon selbst lindern. (Das ersetzt aber nicht das Abklären durch einen Arzt)

Ich liste erstmal die Sachen auf, die wir selbst machen können: Ausprobieren ob Wärme oder Kälte gut tun, Fußreflexzonenbehandlung (in Büchern oder auf Youtube gibt es Anleitungen) und Heilkräuter (z.B. in Tees) wurden genannt. Vielleicht gab es noch mehr, daran kann ich mich grade nicht mehr erinnern.

Und was können andere für uns tun? Da wurden zum Beispiel Cranio-Sacral-Therapie, Periost-Behandlung und Wassergymnastik erwähnt. Manches kann von HausärztInnen verschrieben werden. Die Nickis haben aber auch noch den Tipp gegeben, zu einer Schmerzambulanz eines Krankenhauses zu gehen, weil man darüber auch manches mehr bezahlt bekommen kann. Da meinten dann aber auch welche, dass das nicht immer so gut klappt, vor allem wenn es keine körperliche Diagnose gibt. Aber ich denke es lohnt sich, das zumindest mal auszuprobieren.

Bei Besuchen von ÄrztInnen und PhysiotherapeutInnen und anderen Professionellen, da haben viele Schwierigkeiten. Das fängt schon damit an, dass es sehr schwer sein kann, dahin zu gehen, weil es zum Beispiel innere Verbote gibt oder weil man sich den Schmerz selbst nicht richtig glaubt oder sich sagt, man würde sich ja nur anstellen. Jemand hat erzählt, dass man da die TherapeutIn einspannen kann. Z.B. kann man sie zuerst anrufen und fragen, ob sie bei den Symptomen eine Abklärung wichtig findet und wenn sie ja sagt, ist es gut, ihr zu versprechen, in eine ärztliche Praxis zu gehen, damit man es auch wirklich tut.

Zur Vorbereitung gab es den Tipp, das Abschirmen von Innenpersonen, die den Besuch bei der Ärztin oder anderen Körperbehandelnden nicht mitkriegen wollen, vorher intensiv zu üben. Da kann man dann auch gleich dazu üben, dass immer die richtige Person die für sie bestimmten Medikamente bekommt und genau die Person bei dem Termin vorne ist, die auch die Beschwerden hat. Nickis meinte, sie versichern die, die sie abschirmen (z.B. hinter einer Mauer) dann immer: “ wir holen euch nachher wieder“. Das ist für mich eine hilfreiche Idee, das alles gezielt zu üben, lange bevor es zur Ärztin geht.

Für mich war eine wichtige Frage: „erzähl ich den ÄrztInnen und PhysiotherapeutInnen, dass ich Viele bin? Wann macht das Sinn und wann eher nicht?

Dazu gab es verschiedene Antworten. Also erstmal meinten manche, dass es total nach hinten losgehen kann. Weil dann manchmal alle Symptome gleich in die Psychosomatik-Ecke abgeschoben werden, ohne gründlich zu prüfen, ob das auch wirklich stimmt. Jemand hat erzählt, dass sie bei starken körperlichen Schmerzen einfach nur einen Psychiater ans Bett gesetzt bekamen, allein wegen der psychiatrischen Diagnose. Das ist natürlich echt gar nicht hilfreich. Aber es gibt auch Momente, wo es hilfreich sein kann, das mitzuteilen. Wenn es zum Beispiel verschiedene Werte gibt, z.B. bei Sehstärken oder EKG. Ohne die Erklärung, dass das bei Vielen mal passieren kann, ist das ja tatsächlich sehr verwirrend. Oder wenn es darum geht, dass Rücksicht auf
bestimmte Ängste genommen werden muss.

Die Nickis haben zum Beispiel auch die Frage beantwortet, wie Physiotherapie klappen kann, wenn wir nicht angefasst werden wollen. Sie meinten, dass die Griffe auch erstmal nur von weiter weg gemacht werden können, also ohne Berührung. Und wenn wir der Person dann vertrauen, dann erst kann das Gleiche mit Anfassen ausprobiert werden. Manche Übungen gehen vielleicht auch ganz ohne Anfassen. Damit die behandelnde Person da sehr vorsichtig ist und nichts überstürzt und vielleicht auch mit uns zusammen überlegt, wie es für uns gut klappen kann, ist es eben auch hilfreich, wenn sie weiß, dass wir traumatisiert und viele sind. Zusammenfassend wurde gesagt, dass es in manchen Fällen, wie zum Beispiel in der Notaufnahme, nicht unbedingt gut ist, sowas zu sagen, in manchen anderen Fällen aber schon, vor allem wenn es um einen längerfristigen Kontakt geht.

Dann ging es noch viel um Medikamente, auch um Psychopharmaka. Da habe ich für mich nicht so viel mitnehmen können, das ist aber auch ein schweres Thema für uns. Unsere Freundin wusste aber noch, dass darüber diskutiert wurde, ob Medikamenteneinnahme an Rentenansprüche gekoppelt sein kann. Da gab es wohl echt arg unterschiedliche Erfahrungen. Es wurde dann noch der VdK genannt, das ist ein Sozialverband, wo man rechtliche Unterstützung bekommen kann.

Ja also insgesamt war unserer Freundin und uns aufgefallen, dass es viele schlimme Erfahrungen gab. Aber meistens, wenn was Schlimmes erzählt wurde, gabs auch wieder von irgendwem was Positives zu berichten. Das war für uns auch wichtig, weil es sonst zu entmutigend gewesen wäre. Da wir selbst eben sehr viel mit Körperschmerzen zu tun haben, war für uns dieses Thema eine riesen Herausforderung. Denn dadurch, dass wir uns so konzentriert mit diesem Thema beschäftigt haben, hatten wir danach noch dollere Schmerzen. Trotzdem war es auch eine gute Erfahrung sich mit so vielen anderen, die auch Viele sind, darüber auszutauschen, zusammen frustriert zu sein und zusammen nach Lösungswegen zu schauen. Das war schon ziemlich einmalig.
Nach dem Workshop gab es richtig leckeres veganes Essen. Das fanden wir toll, weil wir so den Tagungsort nicht verlassen mussten, sonst wäre es zeitlich doch arg knapp geworden.

Denn danach ging es auch schon los mit dem Abendprogramm von Pünktchen und deren Tochter.

Das hat uns persönlich sehr bewegt. Schon die Ansprache von den Pünktchen am Anfang hat uns tief berührt. Sie meinten nämlich, dass sie noch gar nicht lang Klavier spielen und sich auch ein paar Mal verspielen werden, dass sie es aber trotzdem wagen wollen. Und genau diese Einstellung hat das Konzert so wunderschön gemacht, denn es war ehrlich und klar und lustig war es auch, es war ganz locker, eben weil es nicht um Perfektion ging und darum hat es viel Spaß gemacht. Die Geschichte mit dem Elefanten hat uns auch gut gefallen. Und wie Pünktchen und ihre Tochter so achtsam miteinander umgegangen sind und zusammen gespielt haben, das war auch so schön mit anzuschauen und hat uns berührt. Am Schluss wurden so schön gefaltete Schmetterlinge an alle verteilt. Unserer hängt jetzt überm Schreibtisch. Also vielen vielen Dank an Pünktchen und ihre Tochter für dieses Erlebnis!

Am nächsten Tag gab’s dann den zweiten Workshop. Wir sind zu dem von Sabine Weber gegangen, zum Thema „Ausstieg: was brauchen wir?“ (Ergebnisse hier)

Das war sehr aufwühlend für uns, das haben wir später gemerkt, aber wir haben sehr sehr viel mitnehmen können und zehren immer noch davon!

Es war auch ein Mitmachworkshop, alle haben zusammen getragen, was ihnen hilft oder geholfen hat und das fanden wir sehr bereichernd. Besonders schön fand ich, wie einfühlsam und geduldig und angenehm Sabine Weber den Workshop geleitet hat. Dadurch gab es eine Atmosphäre von Ruhe und Zusammenhalt, das war bei dem ja doch sehr schwierigen Thema sehr hilfreich. Vielen Dank an Sabine Weber für die angenehme Gestaltung und insgesamt für diese Erfahrung, die uns so viel gegeben hat!

Sabine Weber hat am Anfang die Frage gestellt, was wir für den Ausstieg brauchen, wenn wir unbegrenzte Möglichkeiten hätten. Da kam dann auch gleich eine damit zusammenhängende Frage auf:

Was ist denn überhaupt „Ausstieg“? Wann ist man ausgestiegen?

Sabine Weber hat dazu zwei Alltagsbeispiele genannt, die mich noch sehr lange beschäftigt haben. Zum einen hat sie erzählt, dass wenn sie auf der Straße nach dem Weg gefragt wird, sie keine Angst mehr hat, dass es irgendwas mit ehemaligen Tätern zu tun hat und deshalb auch nicht mehr ständig auf der Hut ist draußen und keine Fluchtimpulse mehr hat. Zum anderen machen ihr Anrufe von unbekannten Nummern nicht mehr so Angst wie früher, sie denkt dann eher, dass sich da vielleicht jemand verwählt hat. So jedenfalls habe ich ihre Antwort in Erinnerung und uns hat das total baff gemacht.

Dann wurde gemeinsam an einer Tafel zusammengetragen, was wir brauchen. Viel ging es um Unterstützungsnetze und was wir von Menschen brauchen, die uns begleiten? Welche Eigenschaften sollten Helfende mitbringen? Welche Orte sollten geschaffen werden? Da kam viel zusammen. Es gab zum Beispiel den Wunsch nach sicheren äußeren Orten, an die man zum Beispiel an Feiertagen gehen kann oder ganz allgemein, wenn man sich gerade verstecken muss. Schön wäre es, wenn es die Möglichkeit gäbe, Tiere mit an diese Orte und auch in die Klinik zu nehmen. Denn manchmal entscheiden sich Menschen gegen Klinik oder andere eigentlich unterstützende Orte, weil sie nicht wissen, wer sich dann um die Tiere kümmert.

Es ging auch noch um die Gratwanderung zwischen bedingungsloser Unterstützung und Grenzen gesetzt bekommen von außen. Zum einen ist es wichtig, dass für einen Kontakt nicht so krasse Bedingungen gestellt werden (die man eh nicht einhalten kann, wodurch dann die Beziehung kaputt geht oder die einen dazu zwingen, einen Weg zu gehen, der einem nicht gut tut) und dass die uns begleitenden Menschen nicht gleich aufgeben und ihre Unterstützung entziehen, wenn es mal nicht so schnell voran geht oder Innenpersonen am Ausstieg zweifeln oder ihn sabottieren. Zum anderen ist es aber auch wichtig, wenn die Menschen, die eine begleiten, auch klare Grenzen setzen, sagen, wenn sie sich Sorgen machen und gegebenenfalls einschreiten. Obwohl das so unterschiedliche Wünsche sind, stand beides nicht im Widerspruch zueinander.

Wir haben auch darüber gesprochen, ob die Öffentlichkeit Schutz oder Risiko bedeutet. Da gab es verschiedene Positionen zu. Die Öffentlichkeit kann schützen und nämlich dazu führen, dass Leute kritische Fragen stellen, wenn einem was passiert. Zum Beispiel wurde aber die Befürchtung geäußert, dass damit ein falsches Gefühl der Sicherheit erzeugt werden könnte – schließlich gibt man dadurch auch zwangsläufig Informationen über sich preis. Außerdem birgt das an die Öffentlichkeit gehen auch eine Verantwortung: ist man wirklich ausgestiegen?

Unterschiedliche Erfahrungen gab es zum Beispiel auch dazu, ob man noch gut einen Job bekommen kann, wenn man mit sowas öffentlich ist. Es gab aber auch Erfahrungen mit einer Art Mittelweg. Also, dass im direkten Umfeld eine kleine Öffentlichkeit geschaffen wird. Hausgemeinschaften können zum Beispiel für äußere Sicherheit genutzt werden. Man kann andere Hausbewohner*innen bitten, unbekannte Menschen anzusprechen. Dazu ist es nicht unbedingt nötig, dass sie wissen, worum es geht, es kann aber nützlich sein, damit es
auch ernst genommen wird.

Aber am meisten ging es um Innere Prozesse und Wünsche in Bezug auf den Ausstieg. Wie gehe ich mit denen um, die jetzt keine Aufgabe mehr haben? Und wie mit denen, die ihre Aufgabe nicht aufgeben wollen? Wie gehe ich mit der Leere um, die durch die vielen Änderungen entsteht? Wie kann man es schaffen, dass das Gefühl, was manche früher hatten, nämlich wer Besonderes zu sein, erhalten bleibt ohne die Anbindung an die Täter*innengruppierung? Dazu ist es wichtig, sich mit allen im Innen zu beschäftigen und nicht zu verurteilen. Durch den Ausstieg gibt es jetzt neue Aufgaben zu verteilen, wer kann die übernehmen? Wie können wir unsere Erfahrungen und unser Wissen von früher jetzt so anwenden, dass es uns nutzt? Und es geht darum,
nach und nach auch Aufgabenkreise zu erweitern.

Auch über die neu-Definierung von Begrifflichkeiten wurde gesprochen. Wer und was wurde beispielsweise früher als „besonders“ bezeichnet? Wie möchten wir dieses Wort heute belegen? Viele Worte bedeuten bei unterschiedlichen Innenpersonen etwas anderes – auch da ist Innenkommunikation so wichtig, damit wir uns nicht gegenseitig missverstehen.

Dann wurde noch gesagt, dass es ein wichtiger Schritt ist, herauszufinden, woraus man eigentlich aussteigt. Welche Personen in meinem Umfeld sind gefährlich für mich und wie gehe ich damit um, wenn ich das nicht weiß? Da gab es verschiedene Ansätze. Manche wollen sich von jeder Person aus dem früheren Leben abgrenzen, um sich sicher fühlen zu können, um dann erst nach und nach herauszufinden, wer einem heute gut tun kann und zu wem Kontakt sicher wieder aufgebaut werden kann. Andere gehen es genau umgekehrt an. Für beide Strategien braucht es allerdings eine gute Innenkommunikation, damit eben alle ihr Wissen über Menschen zusammentragen können. Und so oder so braucht es ein Abschiednehmen und darin Unterstützung von Außen und Innen.

Und weil eben das so schwierig ist, brauchen wir auch einen Grund zum Aussteigen. Das ist eine wichtige Frage für mich gewesen: Warum will ich eigentlich aussteigen? Was treibt mich an? Mir das immer wieder klarzumachen finde ich hilfreich – vor allem in Momenten des Zweifelns.

Dann hat jemand noch so ein schönes Beispiel dazu gegeben, dass es im Inneren zu den verschiedenen Situationen und Außenmenschen unterschiedliche Wahrnehmungen und Empfindungen gibt: Manche finden es so schön, Streuselkuchen bei Oma zu essen und wissen nicht, warum daran etwas schwierig sein sollte. Andere sagen aber „es war gar nicht immer schön mit Oma“. Und beide Seiten haben ihre Berechtigung und beide sollten sie nicht übergangen werden. Wie kann ich also das Positive mitnehmen ohne das negative aushalten zu müssen? In diesem Beispiel wäre das vielleicht, dass man sich ein Streuselkuchen Rezept raussucht und den Kuchen selber backt.

Zusammenfassend kann ich wohl sagen, dass es sehr viel darum geht, ein gegenseitiges Verstehen aufzubauen, sich gegenseitig ernst zu nehmen und auch von außen ernst genommen zu werden.

Am Schluss meinte wer, dass dieser Workshop und dieses Zusammenarbeiten schon praktizierter Ausstieg war. Dem kann ich mich nur anschließen. Sich darüber in einer Gruppe ausgetauscht zu haben, mit anderen Betroffenen über Möglichkeiten und Wünsche sprechen zu dürfen, das hat in uns eine Tür geöffnet. Wir sind wirklich sehr dankbar.